„Wand an Wand mit einer Leiche“
Richtig kriminell wird es am Montagabend im Schloss Dahlen: Frank Kreisler liest in Dahlen.

 

Montags leidet verbreitet das Wohlbefinden, was gemeinhin als Blue-Monday-Effekt bezeichnet wird. Experten führen das auf das Tief zurück, in dem sich Berufstätige nach einem relaxten Wochenende bei der Rückkehr an den Arbeitsplatz wiederfinden. Anders in Dahlen. Zumindest am Montag, dem 8. Juli. Da schaudert’s Mann und Frau aus einem ganz anderen Grund. Die Stadtbibliothek hat Frank Kreisler zu einer Lesung eingeladen. Der Leipziger Autor wird seinen Zuhörerinnen und Zuhörern ab 19 Uhr im Dah-
lener Schloss wahre Kriminalfälle präsentieren, die sich in der nahen Großstadt ereignet haben...

 

SWB: Wie stark müssen die Nerven sein, um das zu Hörende auszuhalten?


Frank Kreisler: Na ja, die Nervenstärke wird wohl kein Kriterium sein. Es wird ein spannender, unterhaltsamer Abend.


Worauf sollte Ihr Publikum gefasst sein?


Auf spannend aufgearbeitete wahre Kriminalgeschichten, manche mit einer Prise schwarzen Humors. Ich stelle einige Fälle vor, erzählend oder lesend, und es werden auch Bilder gezeigt. Allerdings keine Polizeifotos, sondern Aufnahmen von Christiane Eisler. Sie hat die Tatorte von damals heute fotogra-
fiert – Wohnhäuser, auch Lost Places und so weiter. Wenn man hört, was sich da zugetragen hat, entwickelt sich ein besonderer Blick auf diese sonst unscheinbaren Orte.


Berichten Sie detailliert von den einzelnen Fällen oder wählten Sie diese als Grundlage für literarisch bearbeitete Kriminalgeschichten?


Das ist sicherlich ein Mix aus beidem. Details sind wichtig, man sollte sich da aber nicht – salopp gesagt – in Wasserständen und Tauchtiefen verlieren, also nur Fakten aneinanderreihen. Fakten, Details bilden natürlich die Grundlage für die Story und werden da integriert und lösen auch eine Art Wechselwirkung
aus. Und das wird dann die Story. Manchmal ergeben sich trotz der vielen recherchierten Fakten auch Leerstellen, die Raum für Fragestellungen oder Spekulationen lassen. Denn Täter sind häufig nicht allzu auskunftsfreudig vor dem Richter oder sie lügen. Da muss ich als Autor schauen: Was stimmt? Was stimmt nicht? Oder: Was ist wahrscheinlich?


Wie wurden Sie Krimiautor?


In den Nullerjahren verfasste ich vor allem Bücher für Kinder, dazu kamen Veranstaltungen. In dieser Zeit begann ich parallel einen Kriminalroman zu schreiben. Ohne dass ich dafür bereits einen Verlag gefunden hatte. Das Ergebnis war „Wasserfest“.
Das Buch wurde für den Leipziger Krimipreis nominiert, kam in die Endrunde und wurde vom fhl-Verlag veröffentlicht. Dieser Verlag gab auch Krimi-Anthologien heraus, an denen ich mich dann beteiligte. Das hat richtig Spaß gemacht.


Waren es anfangs fiktive Geschichten, so wurden diese alsbald durch reale Fälle abgelöst...


Den Anstoß dazu hatte der Mitteldeutsche Verlag gegeben. Damit erweiterte ich mein „Be-
tätigungsfeld“ auf „true crime“ (auf Deutsch: wahre Verbrechen – Anm. d. Red.). Das Faszinierende daran ist, dass es sich um Konflikte aus dem wahren Leben handelt, die sich oft tödlich zuspitzen. Da kann man Kipppunkte beobachten und auch der Frage nachgehen, was hätte passieren müssen, damit es nicht zu dem Verbrechen kommt. Wodurch wurde es begünstigt? Letztlich geht es immer um Schicksale. Manchmal staunt man schon, wie unbedarft und ahnungslos manche den Weg ins Verbrechen gehen, ohne sich dessen bewusst zu sein.


Wie kam es dazu, dass Sie sich speziell mit Verbrechen befassten, die in der Wendezeit in Leipzig verübt wurden?

 

1989/90 ist ja eine ganze Gesellschaft zusammengebrochen. Betriebe wurden geschlossen. Da standen Leute über Nacht zu Tausenden auf der Straße. Das reichte bis in die Familien hinein, die nun häufig auseinandergerissen wurden. Ein Beispiel: Beide arbeitslos. Die Frau fand einen Job in München, der
Mann blieb hier. Das hat das Paar total entfremdet. Das passierte in Leipzig ebenso wie in Rostock
oder Magdeburg. Dieser in den Nachwendejahren häufig anzutreffende Konfliktstoff hatte das Potenzial, zum Ausgangspunkt für Verbrechen zu werden. Hierzu habe ich im Leipziger Stadtarchiv recherchiert, in den Medien, in Akten, und alles zusammengetragen, was ich finden konnte. Dabei stellte ich fest: Die Leipziger Fälle kann man auf ganz Ostdeutschland anwenden, weil die Situation andernorts ähnlich
war. Mit „Wand an Wand mit einer Leiche“, dem Buch, das ich in Dahlen vorstellen werde, fand ich auch schon in Mecklenburg und Brandenburg ein sehr interessiertes Publikum bei meinen Lesungen.


Ohne zu viel zu verraten: Was war für Sie persönlich das Schockierendste, was Sie bei Ihren Recherchen herausgefunden haben?


Da stand ein halbes Jahr lang ein Auto mit einer Leiche im Kofferraum in einer Leipziger Straße, ohne dass es jemand bemerkt hat und was dann auch nur durch Zufall entdeckt wurde. Dabei handelt es sich um die Titelgeschichte von „Wand an Wand mit einer Leiche“. Eine wirklich ziemlich morbide und auch spannende Geschichte.

 

Kamen Sie auch Verbrechen auf die Spur, die sich bis in die Gegend um Dahlen auswirkten?


Ja, so ein Verbrechen gibt es. Stichwort: Zigarettenmafia. Leipzig war einer der Umschlagplätze, an dem Lkw-weise die unverzollten und unversteuerten Zigaretten angeliefert und zwischengelagert wurden. Abgeholt wurden diese dann nachts von Leuten aus dem Leipziger Umland, die sie dann in den klei-
neren Städten im Umkreis weiterverkauften. Vermutlich auch in Dahlen. Das waren zwei hauptsächlich von Vietnamesen gebildete Organisationen, die in den 90er-Jahren um „Standplätze“ auf den Straßen konkurrierten und sich letztendlich bekriegten, was in ganz Ostdeutschland insgesamt 100 Menschen das Leben kostete. Es gab eine Zeit, da wurde in Leipzig jede Woche ein Toter gefunden, der offenbar gegen Regeln verstoßen hatte. Es gab eine quasi Vertragsklausel „Waldstrafe“, die besagte, dass jenem, der sich etwas zuschulden kommen lässt, nicht mehr lebend aus dem Wald zurückkehrt.


War die Kriminalität in der Nachwendezeit signifikant höher als heute? Wenn ja, worauf ist dies zurückzuführen?


Laut Polizeigewerkschaft von 2017 war die Mordrate 1993 mit deutschlandweit circa 1400 Verbrechen am höchsten. In dieser Zahl sind nur Mord und Totschlag enthalten. Körperverletzung mit Todesfolge ist dabei ausgeklammert. Bis 2015 ist die Rate bis auf 500 Fälle gesunken. Alkohol mag ein Grund sein. Al-
kohol spielt bei vielen Morden – auch in meinem Buch – eine traurige Rolle. Damals wurde deutlich mehr konsumiert. Der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen zufolge waren es 1990 noch 13,3 Liter Alkohol pro Kopf und Jahr. Dieser Wert sank bis 2020 auf 10 Liter. Bandenkriminalität, Organisierte Kriminalität, mafiöse Strukturen und „Kriege“ wie jenen der Zigarettenmafia Mitte der 90er-Jahre gibt es so nicht mehr. Dass auch die Morde aus persönlichen Beweggründen zurückgingen, liegt wohl auch daran, dass man gelernt hat, Konflikte anders zu lösen. Zunehmende Kommunikationsbereitschaft und Respekt im privaten Umfeld spielen da vielleicht auch eine Rolle.


Wie gehen Sie bei Ihren Recherchen vor? Werden Sie dabei unterstützt oder gibt es auch Bestrebungen dagegen, die Geschehnisse von damals wieder ans Licht zu holen?


Ich recherchiere im Stadtarchiv Leipzig, im Sächsischen Staatsarchiv in Leipzig und Chemnitz und bei der Stasiunterlagenbehörde in Polizei- und Gerichtsakten. Durch Zeitungsbeiträge in den Archiven werde ich auf Fälle aufmerksam. Ich versuche dann weiter zu recherchieren. Und dass mir aus einer bestimmten Absicht heraus Steine in den Weg gelegt wurden, konnte ich bisher nicht feststellen. Im
Gegenteil: Ich wurde gut unterstützt beispielsweise zu den Fällen aus der Nachwendezeit. Jedoch ist es nicht immer ganz einfach, sich das vorhandene Material zu erschließen, weil es eben auch Akten gibt, von denen keine Kopien angefertigt werden dürfen. Oder es existieren Bestimmungen wie jene im Staatsarchiv, dass erst 30 Jahre nach dem Tod des Betreffenden ohne Einschränkung über diesen berichtet werden darf. Hier spielen Persönlichkeitsrechte eine Rolle.
Ist das Todesdatum nicht bekannt, fallen die Schranken stattdessen 100 Jahre nach dem Zeitpunkt der Geburt.


Ist Ihrerseits geplant, wahre Verbrechen auch außerhalb der Leipziger Stadtgrenzen aufzuspüren? Hätte die Gegend rund um den Collmberg hierfür Potenzial?


Aktuell gibt es keine Pläne, an anderen Orten Kriminalfällen nachzugehen. Was nicht unbedingt dem mangelnden Potenzial geschuldet ist. Denn auch hier in der Region sind Verbrechen nicht unbekannt. Zum Beispiel ist in meinem Buch „Lügen bis das Fallbeil fällt“, das gerade erschienen ist, ein historischer
Kriminalfall aus Oschatz enthalten. Schauplatz ist das Gasthaus „Goldener Löwe“ am Altmarkt, dort wo sich heute die Stadthalle befindet.


Müssen Krimiautoren über eine spezielle Sachkenntnis verfügen, um gut zu sein?


Ja, natürlich. Diese Notwenigkeit ergibt sich aus der Handlung. Zwei Beispiele: Wenn ein Täter sein Opfer im Garten vergräbt, sollte der Autor wissen, wie lange es dauert, bis sich der Körper zersetzt und welche Faktoren eine Rolle spielen. Vielleicht will der Täter – aus welchen Gründen auch immer – ir-
gendwann die Knochen verschwinden lassen. Da braucht man eine gewisse Planung – als Autor. Man will ja den Täter nicht andauernd mit dem Spaten nachsehen lassen … Oder wenn es um einen Giftmord auf Pflanzenbasis geht, muss man als Autor natürlich wissen, was das für ein Gift ist und wie es wirkt.


Lesen Sie selber Krimis? Welche Autoren inspirierten oder inspirieren Sie?


Ja, das tue ich. Im Moment lasse ich mich vor allem von Kriminalakten inspirieren. Es ist immer wieder wie ein Sprung ins kalte Wasser.


Gibt es aus Literatur, Film oder Theater eine Ermittlerfigur, die Ihnen besonders imponiert? Und wenn ja, warum?


Ich mag Charly Hübner als Kommissar Sascha Bukow aus dem Rostocker Polizeiruf. Der Typ ist bodenständig, aber auch zwiespältig. Diese Zwiespältigkeit wurzelt in seiner Biografie und hat mit seinem Vater zu tun, der ebenfalls Polizist war, allerdings zu DDR-Zeiten, und nach der Wende entlassen wurde, die Seite wechselte und im kriminellen Milieu landete. Bukow wird da immer wieder mit reingezogen, andererseits profitiert er als Ermittler aber auch davon. Bukow ist da so ein bisschen zerrissen, mehr noch: Diese Zerrissenheit füllt ihn aus. Inwiefern das realistisch ist, sei dahingestellt. Als Figur ist das aber überzeugend.


Ist die Lesung im Dahlener Schloss eine Premiere für Sie? Gibt es persönliche Erlebnisse, die Sie mit dem Schloss, der Stadt oder der Heide verbinden?


Dahlen ist eine absolute Premiere für mich. Ich freue mich sehr!


Sie sind landauf, landab auf unterschiedlichsten Lesungen zu erleben. Was muss geschehen, damit eine Lesung in Ihren Augen rundum gelungen ist? Was müsste am 8. Juli in Dahlen passieren?


Vor allem muss es dem Publikum gefallen. Dafür werde ich mich – wie sonst andernorts auch – ins Zeug legen.


Gespräch: Heiko Betat

Interwiev mit dem SonntagsWochenBlatt vom 7. Juli 2024